Vereidigung Willy Brandts als Bundeskanzler am 21. Oktober 1969

50 Jahre Kanzler Brandt Der, der mehr Demokratie wagte

Stand: 21.10.2019 11:12 Uhr

Vor genau 50 Jahren wurde Willy Brandt zum Kanzler gewählt - eine Zäsur für die Bundesrepublik: Der große Hoffnungsträger leitete die weltpolitische Wende ein und versöhnte die Deutschen mit ihrer Geschichte

Von Birgit Schmeitzner, ARD Berlin

Deutschland im Herbst 1969: Die SPD macht Wahlkampf für ein modernes Deutschland von morgen - wer dafür sorgen soll? Ein Wahlspot der Zeit liefert untermalt von poppiger Musik die Antwort: "Helmut Schmidt, Professor Schiller und Willy Brandt".

In der Wahlnacht tritt Brandt vor die Kameras und verkündet selbstbewusst: ein "Weiter so" mit der Großen Koalition werde es mit ihm nicht geben. Die SPD habe schließlich massiv Stimmen gewonnen. "Ich habe die FDP wissen lassen, dass wir zu Gesprächen mit ihr bereit sind."

Willy brandt, Walter Scheel und Gustav Heinemann

Brandt (SPD) und Scheel (FDP) teilen dem Bundespräsidenten Heinemann mit, sich zu einer gemeinsamen Regierungsbildung entschlossen zu haben.

Die erste sozialliberale Koalition

Die erste sozialliberale Koalition nimmt schnell Formen an, gerade in der Deutschland-Politik und in der Außenpolitik liegen SPD und FDP auf einer Linie. Bundeskanzler Brandt, FDP-Chef Scheel Außenminister - das ist der Plan. Auch wenn die Koalition nur eine Mehrheit von zwölf Sitzen hat.

Der Plan geht auf: Am 21. Oktober 1969 wählt der Bundestag Brandt zum Kanzler. In seiner ersten Regierungserklärung prägt Brandt einen Satz, den man auch heute noch mit ihm verbindet: "Wir wollen mehr Demokratie wagen". Gemeint war: mehr Transparenz, was die Regierung tut. Mehr Teilhabe der Bürger, auch durch ein niedrigeres Wahlalter, das wurde unter Brandt von 21 auf 18 Jahre gesenkt.

Brandt lässt in seiner ersten Rede als Regierungschef aber auch erkennen, dass ihn vor allem der Blick nach außen leitet: "Unser Land braucht die Zusammenarbeit und Abstimmung mit dem Westen und die Verständigung mit dem Osten". Brandt will neue Wege gehen. Er sucht den Dialog mit der DDR und mit der Sowjetunion. Er will eine "Neue Ostpolitik", er will mehr als die "Politik der kleinen Schritte", die er zuvor in der Großen Koalition mit angestoßen hatte. Das lässt die Amerikaner besorgt aufhorchen. Letztlich unterstützt US-Präsident Richard Nixon aber die Politik von Brandt.

Neue Ostpolitik

Im März 1970 reist Brandt als erster Bundeskanzler in die DDR, mit dem Zug. Der Ministerpräsident der DDR, Willi Stoph, empfängt ihn am Hauptbahnhof in Erfurt. Die vorsichtige deutsch-deutsche Annäherung wird weltweit aufmerksam verfolgt, in Erfurt selbst drängen Tausende DDR-Bürger zum Hotel, in dem sich die beiden Politiker unterhalten. Die Menge ruft: "Willy Brandt ans Fenster" - und sie bekommt ihren Willen.

Noch ist es ein symbolisches Treffen. Doch es folgen weitere und schließlich Verträge, die die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten etwas durchlässiger machen. Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR schließt Brandt allerdings aus, das Fernziel ist und bleibt die deutsche Einheit.

Der Schlüssel für die neue Ostpolitik, das ist Brandt klar, liegt in Moskau, im Kreml. Und auch wenn sein Vorgehen daheim in Deutschland umstritten ist - im August 1970 unterzeichnet Brandt im Kreml den Moskauer Vertrag. Er spricht von einer Stärkung des westlichen Bündnisses. "Uns muss es darauf ankommen, durch Entspannung und Zusammenarbeit einen Prozess zu fördern, der unnatürliche und unmenschliche Teilungen überwinden hilft."

Der Moskauer Vertrag ebnet den Weg für weitere Abkommen mit der DDR, mit der Tschechoslowakei, mit Polen. Im Warschauer Vertrag akzeptiert die Bundesrepublik die Folgen des verlorenen Weltkrieges: die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze von Polen. Es ist der endgültige Verzicht auf die ehemals deutschen Ostgebiete.

Nobelpreiswürdige Geste der Demut

Heftiger Widerstand kommt von CDU und CSU, die sich später bei der Ratifizierung in weiten Teilen enthalten werden. Brandt fährt nach Warschau, um das Vertragswerk zu unterzeichnen. Am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos legt er einen Kranz nieder.

Egon Bahr, damals Staatssekretär, erinnert sich, wie er hinter einem Pulk Journalisten näher kam: "Und plötzlich wurde es still. Wir kamen näher und einer drehte sich um, war ungehalten, weil wir noch plauderten, und sagte: Er kniet." Der Kniefall von Warschau, eine Geste der Demut. Brandt, der im Nazi-Deutschland keine Schuld auf sich geladen hatte, der selbst verfolgt und ins Exil getrieben wurde, bittet stumm um Vergebung. Ein Moment, der international große Beachtung findet, und dazu beiträgt, dass Brandt ein Jahr später in Oslo den Friedensnobelpreis verliehen bekommt. Brandt wird gewürdigt, weil er die Versöhnung alter Feinde sucht. Weil er die Tür nach Moskau geöffnet hat.

Historischer Wahlerfolg - dann Guillaume

Innenpolitisch steht Brandt aber unter Druck. Ein Misstrauensvotum übersteht er nur knapp und erzielt dann doch bei der vorgezogenen Bundestagswahl im November 1972 einen triumphalen Erfolg. Das beste Wahlergebnis der SPD in ihrer Geschichte. Sie wird mit fast 46 Prozent stärkste Kraft im Parlament. Ein historischer Wahlerfolg, von dem Brandt aber nur anderthalb Jahre etwas haben sollte. Sein persönlicher Referent Günter Guillaume wird als Stasi-Spitzel enttarnt, Brandt übernimmt die politische Verantwortung: "Mein Rücktritt geschah aus Respekt vor den ungeschriebenen Regeln der Demokratie und auch, um meine persönliche und politische Integrität nicht zerstören zu lassen."

Diese Integrität wird Brandt auch von politischen Kontrahenten bescheinigt. Am deutlichsten tat das wohl Alt-Kanzler Helmut Kohl in seinen Memoiren, in denen er Brandt als deutschen Patrioten, Europäer und Weltbürger beschreibt, der mit Lebenserfahrung und Weisheit viel zur Versöhnung der Deutschen mit ihrer Geschichte beigetragen habe.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 21. Oktober 2019 um 11:50 Uhr.