Reihe von Wohnungsblöcken in Mettenhof.

Schleswig-Holstein Kiel und Neumünster: Arm und Reich leben getrennt voneinander

Stand: 06.05.2024 05:00 Uhr

Eine Studie zeigt, wie stark getrennt arme und reiche Menschen in den fünf größten Städten in Schleswig-Holstein leben. Einfluss darauf haben die bauliche Struktur und Migration.

Von Moritz Mayer

Im Idealfall leben arme und reiche Menschen im gleichen Stadtteil - wie zum Beispiel in Flensburg. Die Viertel dort sind überwiegend sozial durchmischt. Doch vor allem in Kiel und Neumünster leben Arme und Reiche in unterschiedlichen Stadtteilen. Das zeigt eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) mit Daten aus dem Jahr 2022. Sozialforscher nennen die soziale Spaltung auch Segregation. Sie wird durch den sogenannten Segregationsindex gemessen: Je höher er ist, desto stärker die räumliche Trennung von Arm und Reich.

Was genau bedeutet der Segregationsindex?

Der Index zeigt für bestimmte soziale Gruppen an, wie stark sich diese im Stadtgebiet in bestimmten Gegenden ballen - zum Beispiel Empfänger von Grundsicherung. Ein Indexwert von zum Beispiel 35 bedeutet, dass 35 Prozent dieser Gruppe in andere Stadtteile umziehen müsste, damit sich die Gruppe insgesamt gleichmäßig über das Stadtgebiet verteilen würde. Je höher also der Wert, desto getrennter leben die Menschen voneinander.

Kiel: Starke Trennung von Arm und Reich

Aus dem Ranking sticht besonders Kiel hervor. Wohlhabende Menschen leben laut der Studie größtenteils am Westufer der Förde. Die Bevölkerung mit niedrigeren Einkommen wohnt eher in Gaarden und Mettenhof. In den beiden Stadtteilen bezogen im Jahr 2022 knapp 37 Prozent der Bevölkerung unter 65 Jahren Grundsicherung (heute: Bürgergeld), etwa die Hälfte der Kinder wächst in Armut auf. "Die Ursachen dafür sind aber unterschiedlich", so Rainer Wehrhahn, Professor für Geographie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Unterschiedliche Ursachen für Armut in Gaarden und Mettenhof

Der Arbeiterstadtteil Gaarden entstand Ende des 19. Jahrhunderts, durch die wachsenden Werftindustrie gab es viele Arbeitsplätze. Der Stadtteil war von vielen kleinen und schlecht ausgestatteten Wohnungen geprägt. "Seit den 1960ern zogen dann viele der klassischen, deutschen Arbeiterfamilien von Gaarden nach Mettenhof", so Wehrhahn. Die Großwohnsiedlung im Kieler Westen wurde in diesen Jahren hochgezogen, die Wohnungen waren für damalige Verhältnisse gut ausgestattet.

Arbeitsplätze gehen durch Werftensterben verloren

In die leerstehenden und günstigen Wohnungen in Gaarden zogen anschließend vor allem türkische Gastarbeiter mit ihren Familien. Mit dem Werftensterben gingen zahlreiche Arbeitsplätze am Ostufer verloren. Seit den 2000ern zieht es sehr viele Geflüchtete in den Stadtteil. Aufgrund der Zuwanderung ist die Gaardener Bevölkerung heute sehr divers, so Wehrhahn. Laut Sozialbericht der Stadt Kiel hatten im Jahr 2022 knapp 60 Prozent der Bewohner einen Migrationshintergrund. Der Ausländeranteil lag bei etwa 40 Prozent.

Wie wurden die Daten erhoben?

Die gezeigten Daten beruhen auf Berechnungen des Sozialwissenschaftlers Marcel Helbig. Er forscht am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg. Die Daten stammen aus Helbigs Studie "Hinter den Fassaden. Zur Ungleichverteilung von Armut, Reichtum, Bildung und Ethnie in den deutschen Städten" vom Dezember 2023. Helbig hat dafür Daten der Bundesagentur für Arbeit verwendet. Diese enthalten für jeden Quadratkilometer der größten 153 Städte ab 60.000 Einwohnern die Zahl der Empfänger von Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch II (Hartz IV, seit 2023 Bürgergeld), der Angestellten mit einem Einkommen von mindestens 4.800 Euro brutto im Monat und der Berufstätigen und Arbeitslosen mit Hochschulabschluss, jeweils in der Altersgruppe 15 bis 64 (erwerbsfähiges Alter). Daten zu Studierenden, Beamten, Selbstständigen und Rentnern sind nicht enthalten, da diese Personengruppen außerhalb der Zuständigkeit der Arbeitsagentur liegen. Aus Datenschutzgründen sind die Zahlen auf die nächste Zehnerstelle gerundet. Die Einwohnerzahlen zur Berechnung der Anteile hat das Unternehmen GfK Geomarketing im Auftrag des WZB berechnet. Die Rohdaten stehen als Download zur Vefügung.

In Mettenhof haben ähnlich viele Menschen einen Migrationshintergrund, allerdings deutlich mehr Menschen einen deutschen Pass. "Das liegt vor allem an den Spätaussiedlern, die in den 1990ern nach Mettenhof zogen. Dort wurden ihnen damals leerstehende kommunale Wohnungen zur Verfügung gestellt", sagt Wehrhahn.

Bekämpfung der Segregation ist schwierig

"Die starke Segregation in Kiel ist ein üblicher Prozess in Städten dieser Größenordnung", meint Wehrhahn. "Es ist aber schwer, die soziale Trennung aufzubrechen. Gerade in bestehenden Wohngebieten", so der Wissenschaftler der Uni Kiel. Diese Einschätzung teilt Gerwin Stöcken, Kieler Stadtrat für Soziales. In wohlhabenderen Stadtteilen fehlten Flächen für sozial geförderten Wohnungsbau. Dafür unterstütze die Landeshauptstadt vor allem Kinder, Jugendliche und ältere Menschen in den sozial schwächeren Stadtteilen. "Vor allem Bildung ist da ein wichtiger Ansatz", so Stöcken. In Gaarden brechen im stadtweiten Vergleich am wenigsten Jugendliche die Schule ab, so Stöcken. Auch der Anteil der Grundsicherungsempfänger und die Kinderarmut gehen kontinuierlich zurück. "Gaarden und Mettenhof sind stolze Stadtteile. Das soziale Miteinander ist gut, die Menschen wohnen dort gerne", sagt Stöcken.

Weitere Vorschläge für soziale Durchmischung

Mit Blick auf die Landeshauptstadt nennt Rainer Wehrhahn von der Uni Kiel zwei Handlungsoptionen für mehr soziale Durchmischung: Die Stadt könnte in wohlhabenderen Vierteln sozial geförderte Wohnungen bauen und so für soziale Durchmischung sorgen - was allerdings konfliktträchtig wäre. Dazu bräuchte es auch geeignete Flächen. "Die andere Möglichkeit wäre, die sozial benachteiligten Gebiete wie in Gaarden aufzuwerten", so der Geograph. "Doch dann besteht die Gefahr der Gentrifizierung", warnt Wehrhahn. Bei diesem Aufwertungsprozess werden lokale, einkommensschwächere Haushalte durch wohlhabendere Haushalte verdrängt - und das Problem der Segregation verlagert. Mit dem Entwicklungsplan Gaarden hoch 10 läuft ein ähnliches Projekt in Gaarden. Stadtrat Stöcken betont: "Das Projekt verhindert den Abstieg von Gaarden." Von Gentrifzierung sei der Stadtteil weit entfernt.

Neumünster: Arme Stadtmitte, wohlhabender Stadtrand

In Neumünster leben Menschen mit weniger Geld eher in den ehemaligen Arbeitervierteln in der Stadtmitte. "Dort sind die Wohnungen günstiger, aber auch in einem schlechteren Zustand", stellt Stadtrat Carsten Hillgruber fest. Am Stadtrand hingegen stehen viele Einfamilienhäuser, dort herrscht mehr Wohlstand.

Wie auch in Kiel beobachtet Hillgruber, dass Armut und Migration zusammenhängen. Viele Neuankömmlinge zieht es in die Stadtmitte, vor allem in das Vicelinviertel. Dort finden insbesondere Menschen, die aus dem Ausland kommen, schnell eine günstige Wohnung. "Sie kennen dort schon Menschen, ihre Sprache wird dort gesprochen, das macht die erste Phase des Ankommens einfacher", so Hillgruber.

Unfreiwillige Segregation ist problematisch

Auch Rainer Wehrhahn von der Uni Kiel bestätigt: Segregation kann unproblematisch sein, wenn sie freiwillig geschieht. "Wenn allerdings ökonomische Zwänge, Sprache, Herkunft oder Diskriminierung dafür sorgen, dass Menschen in bestimmten Stadtteilen keine Wohnung bekommen, ist Segregation problematisch", meint Wehrhahn. Die Folgen spüren vor allem Kinder und Jugendliche. Bildung wird zur Herausforderung, betont Hillgruber. So liegen in Neumünster alle Perspektivschulen im Zentrum der Stadt.

Lübeck: Ärmere Stadtteile werden umgestaltet

In Lübeck entstanden soziale Brennpunkte durch große Mehrfamilienhäuser und Hochhäuser, die in den 1960ern gebaut wurden, so eine Stadt-Sprecherin. Durch städtebauliche und infrastrukturelle Maßnahmen versucht die Stadt, Segregation zu bekämpfen. Der Schwerpunkt lag auf den Stadtteilen St. Lorenz-Süd und Buntekuh, jetzt ist Moisling an der Reihe. Dort wurde ein Hochhaus abgerissen, weitere Gebäude saniert und nach den Plänen der Stadt soll ein neues Stadtteilzentrum entstehen. Trotz der Bemühungen ist die Armut in den drei Stadtteilen nach wie vor deutlich höher als im Rest der Stadt.

Flensburg: Arm und Reich wohnen Tür an Tür

In Flensburg beziehen laut Studie knapp 15 Prozent der Einwohner Grundsicherung, aber: Arme und Reiche leben größtenteils Tür an Tür. "Das liegt an der einheitlichen Baustruktur", sagt Clemens Teschendorf, Pressesprecher der Stadt Flensburg. Die Stadt sei nachhaltig gewachsen, es gebe nur wenige Hoch- und Einfamilienhäuser. "Flensburg ist eine kompakte Stadt. Hochpreisige Wohnungen liegen neben niedrigpreisigen", so Teschendorf. Die eher ärmeren Stadtteilen Nordstadt und Neustadt sollten attraktiver werden. Ehemalige Kasernen und Brachflächen werden seit den 1990ern mit Wohnungen bebaut, die sich alle Einkommensschichten leisten können, sagt Teschendorf.

Norderstedt: Viele Einfamilienhäuser und Wohlstand

"Norderstedt ist keine klassische Stadt", sagt die Oberbürgermeisterin Katrin Schmieder. Die Stadt im Hamburger Speckgürtel entstand aus den vier Dörfern Harksheide, Friedrichsgabe, Glashütte und Garstedt. Einfamilienhäuser dominieren das Stadtbild, an den Ein- und Ausfallstraßen stehen Mehrfamilienhäuser. Die rund 80.000 Einwohner leben sozial durchmischt, in keiner anderen größeren Stadt in Norddeutschland gibt es weniger Armut. Eine leichte Ballung der Armut ist in Glashütte-Süd festzustellen: "Dort stehen alte Mehrfamilienhäuser und die ÖPNV-Anbindung nach Hamburg ist schlechter", so Schmieder. Soziale Brennpunkte gebe es keine. Und auch bei der Unterbringung von Geflüchteten achtet die Oberbürgermeisterin darauf, dass die Unterkünfte dezentral über das Stadtgebiet verteilt sind.

Mitarbeit Grafiken: Michael Hörz (NDR Data)

Dieses Thema im Programm:
NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 06.05.2024 | 08:00 Uhr